Die Agraffe der Macht – Wie ein kleines Detail ein komplettes Image eines Papstes erzeugt

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Detail Agraffe des Modells Papst Julius II. Foto: Robert Schittko

Die Agraffe der Macht – Wie ein kleines Detail ein komplettes Image eines Papstes erzeugt

Ein kunsthistorischer Blick auf ein übersehenes Fragment päpstlicher Imagebildung zur Zeit der Hochrenaissance.


Mehr als ein Detail

In der Mitte der Brust. Fast unscheinbar. Ein geflügeltes Engelsgesicht, eingebettet in eine rechteckige Schnitzfläche: die Agraffe. Was auf den ersten Blick wie ein dekorativer Verschluss des liturgischen Gewandes erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als machtvoll aufgeladenes Symbol päpstlicher Selbstinszenierung. Die Figur, die es trägt – mutmaßlich Papst Julius II., möglicherweise geschnitzt von Michelangelo selbst – wird durch dieses kleine Ornament zu einem monumentalen ideologischen Statement.


Was ist eine Agraffe?

Die Agraffe, auch Gewandschließe genannt, war im liturgischen Kontext der Renaissance mehr als ein funktionales Element. Sie hielt feierliche Obergewänder wie die Chape (lat. cappa) zusammen, ein halbrunder Mantel, den Päpste und Kardinäle bei Prozessionen, Segnungen und offiziellen Auftritten trugen. Insbesondere bei hohen Klerikern wurden diese Schließen mit symbolischen Motiven versehen: Kreuzdarstellungen, Christusmonogramme oder Engel gehörten zu den gebräuchlichen Themen.


Das Motiv: Cherubim als göttliches Mandat

Die Agraffe auf dieser Skulptur zeigt ein geflügeltes Engelsgesicht, kunstvoll geschnitzt und polychrom gefasst. Es handelt sich um ein sogenanntes Cherubim-Motiv – ein in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ikonografie weit verbreitetes Symbol für den Zugang zur göttlichen Sphäre.

Cherubim, so heißt es im Alten Testament, bewachen den Thron Gottes und die Bundeslade. In der Kunst sind sie häufig abstrahiert dargestellt: als Kindergesichter mit Flügeln, losgelöst vom Körper. Sie sind keine niedlichen Putten, sondern geistige Wächter des Heiligen.

Im Zusammenhang mit einem Papstbild bedeutet ein solcher Cherub auf Brusthöhe:

  • Der Träger spricht nicht nur für Gott, er ist von Gott autorisiert.
  • Seine Autorität ist nicht nur institutionell, sondern metaphysisch.

Kontextualisierung: Kleidung als visuelle Rhetorik

Die Skulptur zeigt eindeutig ein überkreuztes Gewand mit plastischer Faltung und einer zentralen Agraffe. es handelt sich nicht um eine Messkasel, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Chape, das repräsentative Gewand für feierliche Anlässe außerhalb der Messe. Sie wurde nicht am Altar getragen, sondern in der Öffentlichkeit, bei Prozessionen, politisch aufgeladenen Anlässen, Investituren.

Das heißt: Diese Darstellung war keine Geste liturgischer Demut, sondern ein Bild der päpstlichen Präsenz in der Welt. Die Chape war nicht Stoff, sie war Bühne. Und die Agraffe war ihr Schlusspunkt, symbolisch wie wörtlich.


Die Position auf der Brust: Symbol über dem Herzen

Die Agraffe liegt zentral über dem Herzen, dort, wo in der römischen Tradition das animus, der Wille, der Herrschaftssitz gedacht wurde. In christlicher Auslegung: das Zentrum der göttlichen Liebe. Diese Platzierung ist kein Zufall. In der Rhetorik des 16. Jahrhunderts war die Brust das Feld der Wahrheit, das Herz der Ort der Absicht.

Ein Cherub an dieser Stelle ist ein Wächter über das innere Mandat, ein göttliches Siegel, das nicht nur das Gewand schließt, sondern den Anspruch des Trägers:
Ich herrsche – und es ist nicht meine Entscheidung (sondern die Gottes).


Politischer Kontext: Julius II. als Meister der Imagebildung

Papst Julius II. (reg. 1503–1513) war kein gewöhnlicher Pontifex. Er war Feldherr, Machtpolitiker, Bauherr und ein Meister der visuellen Selbstvermarktung. Er ließ die Sixtinische Kapelle von Michelangelo ausmalen, initiierte den Neubau des Petersdoms und stellte sich selbst in monumentalen Bildwerken dar, etwa in der zerstörten Bronzestatue von Bologna oder im berühmten Porträt Raffaels.

Die Figur, die diese Agraffe trägt, könnte Teil dieser Bildpolitik gewesen sein. Ihre Symbolik ist subtil, aber unmissverständlich. Nicht mit einer Krone, sondern mit einem Engel auf der Brust signalisiert Julius II. seine überirdische Bevollmächtigung.


Vergleichbare Darstellungen

Ähnliche Cherub-Agraffen finden sich:

  • in päpstlichen Ornaten des 16. Jahrhunderts (z. B. Vatikanische Museen, Museo Sacro),
  • auf Grabmälern (z. B. Sixtus IV.),
  • in Altargemälden, bei denen Hohepriester mit Engelsmotiven an Brust oder Gürtel ausgestattet sind.

Doch kaum eine Darstellung kombiniert Position, Form und Ausdruck so klar wie die vorliegende Figur – sie ist Programmatik in Miniaturform.


Fazit: Die Agraffe ist kein Detail, sie ist das Zentrum

Was als Ornament erscheint, entpuppt sich als eine Kondensation päpstlicher Ideologie:

  • Es ist ein Theologie-Symbol,
  • ein Kommunikationsmittel in Holz,
  • ein Knotenpunkt zwischen Amtskleidung und Selbstdarstellung.

In ihr verdichtet sich, was Julius II. über sich sagen wollte – ohne ein Wort zu sprechen.

Michelangelos Werk kreist immer wieder um die Spannung zwischen irdischer Macht und göttlicher Berufung. Die Agraffe mit dem Cherub ist kein singuläres Motiv, sondern Teil eines größeren ikonografischen Systems – eines, das Michelangelo auf allen Maßstabsebenen bespielte: von der kleinen Brustspange bis zum kolossalen Grabmonument.