Wenn von Michelangelo Buonarroti die Rede ist, denken wir sofort an Marmor: an den David, die Pietà, den Moses. Seine Werke scheinen in Stein gemeißelt für die Ewigkeit. Dass der große Meister der Hochrenaissance auch mit Holz arbeitete, ist kaum bekannt – und doch entscheidend, um sein künstlerisches Selbstverständnis zu begreifen.
Ein lebendiges Material
Holz galt in der Renaissance als praktisches und vielseitiges Material: Es war leichter verfügbar als Marmor, einfacher zu bearbeiten – und oft der erste Schritt hin zum endgültigen Werk. Für Michelangelo war Holz kein „minderwertiger“ Werkstoff, sondern Teil seines skulpturalen Denkens: ein Medium zwischen Idee und Ausführung, zwischen Entwurf und Andacht.
Das Kruzifix von Santo Spirito (1492/93)
Das bekannteste erhaltene Holzwerk Michelangelos ist ein lebensgroßes Kruzifix aus Lindenholz, heute in der Sakristei der Kirche Santo Spirito in Florenz. Es entstand, als der junge Künstler Anatomie an den Leichen des Klosters studieren durfte – als Dank dafür schenkte er den Augustiner-Mönchen dieses Kruzifix.
Was auffällt: Der Körper Christi ist nackt, zart, nahezu schwebend – eine ungewöhnlich intime Darstellung für diese Zeit. Schon hier zeigt sich Michelangelos Fähigkeit, Körper und Emotion in Holz zu übersetzen.
Belegte Holzarbeiten bis ins hohe Alter
Auch in späteren Jahren griff Michelangelo zum Holz – und das belegt nicht nur sein frühes Interesse, sondern seine lebenslange Beschäftigung mit dem Werkstoff:
- 1562 schrieb er in einem Brief an seinen Neffen Lionardo, er wolle ein Kruzifix aus Holz für ihn schnitzen.
- 1563 erwähnte sein Vertrauter Tiberio Calcagni dieses Werk erneut in einem Brief.
- In der Casa Buonarroti in Florenz befindet sich ein kleines, unvollendetes Holzkruzifix (26,5 cm), das zu seinen letzten bildhauerischen Arbeiten zählt.

Neue Zuschreibung: Die Holzstatue von Julius II.
Ein besonders faszinierender Fall: eine holzgeschnitzte Sitzfigur von Papst Julius II., die möglicherweise als Modell für Michelangelos 1508 zerstörte Bronzestatue entstand – oder später als Teil seines monumentalen Grabprojekts. Das Werk zeigt auffällige Parallelen zur Michelangelo-Schule: die Sitzhaltung, die segnende Hand, der kraftvoll gearbeitete Faltenwurf.
Besonders bemerkenswert: Die Figur trägt liturgische Handschuhe (Chirothecae), unter denen die Anatomie der Finger perfekt modelliert ist – typisch für Michelangelos präzise Beobachtungsgabe.
Warum Holz mehr als nur „Vorarbeit“ war
Für Michelangelo war Holz nicht nur praktischer Zwischenschritt, sondern auch Raum für Intimität und Erkundung. Seine Holzarbeiten zeigen den Künstler als Suchenden, als Denker, als Menschen, der in einem vergänglichen Material nach bleibender Form suchte. Während der Marmor Ewigkeit behauptet, lässt das Holz uns die Nähe des Entwurfs spüren – und den Menschen hinter dem Genie.
Fazit
Michelangelo war kein Künstler eines einzigen Materials. Auch in Holz schuf er Werke von Tiefe und Bedeutung – manchmal als Andacht, manchmal als Entwurf, manchmal als Denkmal. Wer Michelangelo nur im Marmor sucht, sieht nur die halbe Wahrheit.
Seine Hand sprach auch durch Holz – und vielleicht gerade dort am deutlichsten.